Katharina Hader hat uns ihren preisgekrönten Text zur Verfügung gestellt:
Einen Tag noch
„Einen Tag noch, einen Tag hat sie noch, bis die Schule wieder beginnt“.
„Sie wird das schaffen, ihr ist es in den letzten Tagen wieder besser gegangen“.
Ich habe ihn ja immer für seinen Optimismus geliebt, aber er weiß genauso gut wie ich, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie ihr erneut schreiben und wir wieder einmal keine Macht haben, ihr zu helfen.
„Mach dir nicht zu viele Sorgen, unsere Tochter ist stark und selbstbewusst, jedenfalls kann sie es wieder werden“. Genau, er hat es richtig gesagt, sie war stark und selbstbewusst und ist sogar wirklich hübsch, warum aber haben dann diese Nachrichten begonnen uns zu erreichen, warum haben sie ihr Wörter geschrieben, die ich mir nicht mal traue in den Mund zu nehmen und warum hat sie es solange geheim gehalten?
Tief in meine Gedanken versunken, habe ich gar nicht bemerkt, dass sie plötzlich in der Küche steht. Wie fast jedes Mal, wenn ich sie während dieser Zeit sehe, erschrecke ich. Wo ist das voll Freude lachende und vor Selbstbewusstsein trotzende hübsche Mädchen geblieben, das wir nun schon seit 16 Jahren unsere Tochter nennen dürfen? Seit die Nachrichten sie erreicht haben, erkennt man die einst so strahlende junge Frau nicht wieder. Dort, wo sie früher nicht einmal Concealer benötigt hat, befinden sich heute tiefe schwarze Ringe und ihre Augen sind rot, sie wird es zwar nicht zugeben, aber ich weiß, dass das vom stundenlangen Weinen kommt. Wenn sie uns doch endlich erzählen würde, was da in der Nacht passiert ist, wir könnten ihr helfen, aber das Einzige, von dem wir wissen, sind die Nachrichten, die jeden Tag auf ihrer Facebookseite erschienen sind und seit sie ihren Account gelöscht hat, erreichen sie die Nachrichten über Whatsapp.
Egal wie sehr ich sie anbettle sich mir zu öffnen, sie tut es nicht und das, obwohl sie mich früher immer an ihrem Leben hat teilnehmen lassen. Als ich ihr angeboten habe, die Polizei einzuschalten, hat sie mich erstaunt, fast verängstigt angesehen und mich angefleht, es ja nicht zu tun. Dazu habe ich mich erst überwinden müssen, aber sie hat mir versprochen, es zu regeln, sobald sie wieder in die Schule kommt, sie hat mir versprochen, es wird danach aufhören, es wird wieder gut werden.
Hoffentlich, ich habe ihr lange genug zugesehen, wie sie keinen einzigen Schritt aus dem Zimmer gemacht hat und richtig abgemagert ist, aber ich kann nicht gegen ihren Willen etwas unternehmen, sie hat gesagt, es würde sonst noch schlimmer werden und man weiß ja nicht mal, wer die Nachrichten geschrieben hat. Wäre mein Mann nicht so hinter unserer Tochter gestanden, hätte ich schon lange einen Beamten um Hilfe gebeten, aber auch er ist der Meinung, sie solle das selber regeln. Natürlich kann ich erkennen, dass auch er sich um unsere Tochter gesorgt hat, aber es scheint ihr langsam wieder besser zu gehen, sie verlässt ihr Zimmer schon und sie beginnt nicht mehr zu weinen, wenn man etwas mit ihr besprechen möchte.
Eine Stunde noch. Eine Stunde noch und dann kommt der Schulbus. Ich habe Angst, Angst, dass sie es nicht schaffen wird und ich sie nochmal so sehen muss. Aber dann, dann werde ich die Polizei informieren, egal wie oft sie sagt, dass es so nur schlimmer wird.
Als sie in der Küche erscheint, kann ich es kaum glauben, ihre Augenringe sind überschminkt und sie sieht beinahe wieder aus, wie unsere einst so glückliche Tochter.
Nachdem sie das Haus verlassen hat, will ich es noch einmal sehen, ich will mir die Nachrichten nochmal ansehen, die uns alle so unglücklich gemacht haben. Sie hat zwar keine Accounts mehr in den Sozialen Medien, aber natürlich kann man alles wiederfinden. Wie jedes Mal kommen mir die Tränen in die Augen, wie kann man jemandem solche Wörter zuwerfen. „Du Hure“, „du behinderte Schlampe“ und „Hässliches Opfer“. Es sind noch neue dazu gekommen und eines lässt mich hochfahren, es wurde gestern Abend geteilt: „Du würdest uns allen einen Gefallen tun, wenn du einfach sterben würdest“.
Jetzt kann ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten und auch nicht meinen Hass gegen diese Monster. Eine Stunde ist vergangen, seitdem sie das Haus verlassen hat und ich hoffe, ich bete zu Gott, dass es ihr gut geht. Ich weiß, es ist falsch, aber ich muss handeln, ich kann diesen Kommentar nicht einfach stehen lassen, ich muss es jemandem melden, oder soll ich noch auf heute Abend warten? Vielleicht kann sie es heute in der Schule wirklich regeln, oder wenigstens warte ich noch so lange, bis mein Mann nach Hause kommt.
Es ist bereits 18:00 Uhr, sie müsste eigentlich schon lange zu Hause sein. Ihr Vater hat zwar gesagt, sie ist sicher nur mit Freunden etwas trinken gegangen, aber ich habe das Gefühl, das stimmt nicht, da stimmt etwas nicht.
Gerade als ich sie zum 5. mal anrufen will, klopft jemand an der Tür.
Voller Freude springe ich vom Sessel, weil ich natürlich meine Tochter erwarte, aber als ich plötzlich die Tür öffne, sehe ich jemanden anderen.
„Hallo?“
„Grüßgott, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie …“ Je länger der uniformierte Polizist erzählt, desto weniger nehme ich wahr, er hat es noch nicht ausgesprochen, aber ich weiß es und jetzt kommt es auch.
„Es tut mir leid, aber die Rettungskräfte konnten nichts mehr für Ihre Tochter tun“.
Auch mein Mann hat jegliche Farbe im Gesicht verloren und nur als dumpfes Geräusch nehme ich wahr, dass ich mein Handy fallen gelassen habe, nichts um mich herum nehme ich noch wahr, das Einzige, was ich sehe, ist sie, sie wie sie heute wieder fröhlicher war als die letzten Wochen, sie, wie sie zusammengekauert auf ihrem Bett lag und sie, wie sie früher gestrahlt hat. Ich war mir so sicher, ich habe so gehofft, dass sie heute alles regeln kann und erst jetzt werden mir ihre Worte klar. Sie hat es geregelt, es werden keine Nachrichten mehr kommen, zumindest wird sie diese nicht mehr lesen, für sie ist es so wohl gut geworden.
Und endlich kommen sie, endlich lasse ich meinen Tränen freien Lauf und schließe meinen Mann, ihren Vater, der sie über alles geliebt hat, in die Arme, spüre auch seine Tränen, die auf meine Schultern fallen und nicht aufhören.
„Einen Tag noch, einen Tag, dann ist der Prozess“, sage ich noch zu meinem Mann, bevor ich ihn in die Arme nehme. Wir haben es erfahren, alles, auch wer die Nachrichten geschrieben hat und warum.
Sie war bei einem „Freund“, einen vermeintlichen Freund, er wollte jedoch nur mit ihr schlafen. Da es nur ein „Freund“ war, wies sie ihn zurück und dann war es so weit, er hat sie zu sich gezogen und bevor sie etwas tun konnte, hatte er ihr auch schon ihre Kleider vom Leib gerissen. Ihr einziger Weg, dem zu entkommen, war ein Kniehieb in seine Geschlechtsteile. Das war jedoch nicht mehr auf dem Video zu sehen, das er veröffentlicht hatte und auf dem es wirkte, als würde sie gerne von ihm ausgezogen werden.
„Bald ist es vorbei, dann können wir vielleicht die schlimmen Dinge vergessen und uns an unsere glückliche Tochter erinnern“, ich liebe den Optimismus meines Mannes immer noch, aber ich weiß, dass wir das alles nie vergessen können, wir werden nie vergessen, dass wir etwas dagegen machen hätten können und wir werden auch nie vergessen, dass das alles nur wegen einer Lüge entstand. Hätte vorher schon jemand die Wahrheit gewusst, wäre es nie so weit gekommen, hätten wir die Polizei eingeschaltet, würden uns vielleicht nicht unzählige Schuldgefühle plagen, dann hätten wir sie vielleicht retten können. Der einzige Lichtblick ist, dass wir mit unserer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen sind, vielleicht können wir durch unseren Schmerz, jemanden anderen davor bewahren, es so weit kommen zu lassen, dass der Tod der letzte Ausweg zu sein scheint, denn „sie“ könnte das Kind von uns allen sein.